Interpretation des Kapitels „Gesang von der Möglichkeit des Überlebens“ aus Peter Weiss‘ dokumentarischem Drama: „Die Ermittlung“ (Schulprojekt)
Alle Werke von Bonnie B. und Lucie M.
Brief, gefunden nach der Befreiung des Lagers
Mein geliebter Paul,
In Erinnerung schreibe ich diesen letzten Brief an dich mit dem Wissen, dass du ihn höchstwahrscheinlich nie erhalten wirst. Ich kann die Geschehnisse nicht mehr verdrängen und will davon berichten.
Ich spüre, wie das Leben an mir vorbeirast, von Tag zu Tag werde ich schwächer. Die Arbeit fällt mir immer schwerer, wo doch sie mir wiederum das Leben einigermaßen erleichtert. Ich als Häftlingsärztin bin im Krankenbau von den extremen Wetterbedingungen geschützt. Ohne Arbeit ist man so gut wie tot.
Eine einzige Kluft ist alles, was wir besitzen, jegliche Identität wurde uns geraubt. Erinnerungen sind alles, was einem bleibt.
Du fehlst mir so sehr, Paul.
Jeder Tag ist ein Kampf ums Überleben, unser Schicksal liegt in den Händen des Zufalls es ist eine reine Glückssache. Ursprünglich wurde ich in die Gaskammer geschickt, doch die Öfen waren verstopft und man konnte unsere Vergasung nicht vornehmen. Es war reines Glück!
Täglich passieren grausame Dinge, unschuldige Menschen werden wie Tiere geschlachtet. Um zu überleben, muss man sein eigenes Leben über jenes der anderen setzen, nur der Stärkere überlebt. Ich selbst tue Dinge, die ich mir nie vergeben kann und mir den Schlaf rauben. Ich erkenne nun, dass Gut und Böse Gutenachtgeschichten sind, die man Kindern erzählt.
Grausame Dinge werden mit Frauen durchgeführt und ich bin beteiligt: Einigen Menschen musste ich auch die letzte Spritze anlegen.
Ich schweige, Worte führen zum Tod.
Solidarisches verhalten ist unser Widerstand und gibt uns gleichzeitig den letzten Funken Hoffnung, dass die Gaskammern und Zufahrtstrecken bombardiert werden.
Abschied nehmen fällt mir sehr schwer. Es ist einfacher der Wahrheit nicht ins Auge zu sehen.
Ich wünschte, ich könnte dich ein letztes Mal sehen, fühlen, hören.
Ein letztes Mal.
