6. Gesang vom Unterscharführer Stark

Interpretation des Kapitels „Gesang vom Unterscharführer Stark“ aus Peter Weiss‘ dokumentarischem Drama: „Die Ermittlung“ (Schulprojekt)

Alle Werke von Pauline B., Marie K. und Anne-Catherine V.

Psychologisches Gutachten: Hans Stark   


Psychologe: Herr Stark, erzählen Sie bitte ein wenig über Ihre Kindheit.
 
Stark: Da gibt es nicht so viel zu sagen. Als Kind spielt man eben gerne. Schule war nie etwas für mich. Meinem Vater gefiel es nicht, dass meine Noten immer schlechter wurden und er zögerte nie, mir das zu zeigen.
 
P.: Was hat Ihr Vater dann gemacht?
 
S.: Ohrfeigen gab er mir, oder er sperrte mich stundenlang ein, doch das war mir egal. Ich war jung und wie junge Leute eben so sind, rebellierte ich immer wieder. Ich ging sogar zur Führerschule, um ihn noch mehr zu kränken. Tagein, tagaus hämmerte man uns dort ein, wie gut wir als Deutschen sind und wie gefährlich die Juden sind.
 
P.: Wie sind Sie zu Ihrer Position im Lager gekommen?
 
S.: In der Führerschule wurde ich als Unterscharführer eingeteilt, der automatisch ein Blockführer im Lager war. Da gab es nicht viel zu wählen. Die anderen entschieden immer für einen selbst. Man ging dorthin, wo man gebraucht wurde. Nachdem ich den Chef der Politischen Abteilung beim Reiten kennengelernt hatte, kam ich zum Aufnahmeblock. Er traf diese Entscheidung für mich.
 
P.: Was war Ihre Aufgabe im Lager?
 
S.: Anfangs war ich zuständig für die Pünktlichkeit der Häftlinge bei der Arbeit. Nach meiner Beförderung musste ich sie alle bei ihrer Ankunft im Lager zählen. Es durfte ja keiner fehlen. Jeder einzelne Häftling bekam eine Nummer und man erstellte ihm einen Personalbogen. Ich war also nur für den Schriftverkehr zuständig.
 
P.: Was ist mit den Erschießungen?
 
S.: Wenn jemand nicht kooperierte, musste man eben eingreifen, das war halt so. Ich erschoss nur die, die Unruhe stifteten. Erst in die Beine, denn die Beine sind das Wichtigste beim Menschen. Wenn man bis einmal in die Waden geschossen wird, dann ist jede Hoffnung auf ein Entkommen verloren. Im Lager gibt es sowieso kein Richtig, kein Falsch. Es gibt nur Befehle und Ausführungen.
 
P.: Sie haben ausschließlich durch Schusswunden getötet, warum schickten Sie die Häftlinge nicht in die Gaskammern?
 
S.: Die Gaskammern? Nein, ich habe meinen Opfern in die Augen geschaut. Gaskammern sind feige und unmännlich. Das geht viel zu schnell und die Schreie sind kaum auszuhalten. Es ist doch wahrhaftig nobler, an Kugeln zu sterben, als mit tausend anderen in einer kleinen Kammer zu ersticken.
 
P.: Wie sind Ihre Gefühle jetzt nach dem Krieg?
 
S.: Mir ist bewusst, dass die Taten, die ich vollbracht habe, schlecht wirken und ich habe dieses saure Gefühl im Magen. Jedoch weiß ich auch, dass ich nur die Befehle ausgeführt habe, die von mir verlangt wurden. Es war Krieg. Ich hatte keine Wahl. Keiner im Lager hatte eine Wahl. Das Denken wurde uns abgenommen.
 
 
Diagnose:
Stark zeigt Anzeichen einer Gehirnwäsche, die er höchstwahrscheinlich in der Führerschule bekam. Der Patient scheint auch von dem Verhalten seines Vaters geprägt zu sein, denn er hat nicht davor gescheut, aggressiv zu werden, wenn man ihm nicht gehorcht hat. Dies deutet auf einen ausgeprägten Vater-Sohn-Konflikt hin. Seine Aussagen über den Unterschied zwischen den Erschießungen und den Gasmorden sind äußerst widersprüchlich. Seiner Meinung nach sind die Tötungen anhand von Gas unmenschlich, dennoch geht er genauso brutal mit seinen Opfern um. Außerdem wirkt er relativ nüchtern in Bezug auf seine Morde. Er äußert weder Mitleid noch Schuldgefühle, obwohl er sich seiner Taten bewusst ist. Es ist deswegen stark davon abzuraten, Stark eine Verminderung seiner Haftstrafe zu bieten.

Autor: Stolpergedanke

Existentialist, teacher.

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